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Beitrag | Was wissen wir denn eigentlich? (Beste Grüße an Sokrates)

Was wissen wir eigentlich? Und inwiefern können wir bei "gesichertem" Wissen wirklich von sicherem Wissen ausgehen? Was ist das eigentlich, "sicheres" Wissen? Thomas Nöller, der Leiter der Maxpert E-Learning Abteilung, hat sich mit der Problematik der "Replikationskrise" in der (psychologischen) Wissenschaft auseinandergesetzt und was das im Kontext der professionellen Personalentwicklung und Erwachsenenbildung bedeutet.

09.08.2019

(Anmerkung: Der folgende Bericht ist erstmals auf LinkedIn Pulse erschienen)

Die Replikationskirse in der psychologischen Wissenschaft

Ich stelle immer wieder fest: eigentlich fände ich es ganz nett, wenn die psychologische Forschung mal gesicherte Erkenntnisse und absolute Wahrheiten (mein konstruktivistischer Anteil belächelt mich gerade nur müde) hervorbringen würde - das würde so vieles einfacher machen. Wahrscheinlich ist es um viele andere Wissenschaftsbereiche nicht besser bestellt, hier will ich mir mangels Kenntnis allerdings kein Urteil erlauben. Stattdessen ist von einer „Replikationskrise“ oder, warum auch nicht, einer Krise des ganzen Wissenschaftszweigs der Psychologie die Rede. 2015 haben verschiedene Forschergruppen in einer Open Science Collaboration hundert Studien aus drei sehr renommierten Zeitschriften so genau wie möglich repliziert, mit der Folge, dass von 97% signifikanten Ergebnissen der Originalstudien die Erfolgsquote bei der Replikation auf 36% sank (Sciencemag "Estimating the reproducibility of psychological science" und Deutschlandfunk "Wenn Studien einem zweiten Blick nicht standhalten").

Gilbert, King, Pettigrew und Wilson wiederum haben 2016 eine methodische Kritik zu den Replikationen aufgebracht und gehen von einer Erfolgsquote von 85% aus (Comment on“Estimatingthe reproducibility ofpsychological science”). Vermutlich liegt die Rate also irgendwo zwischen 36% und 85% - diese Zahlen könnten ja mal ein bisschen demütig machen.

Mark Galliker nahm die aktuelle Krise zum Anlass, in seinem 2016 erschienen und sehr lesenswerten Buch „Ist die Psychologie eine Wissenschaft?“, die Kontroversen der Psychologie von den Anfängen bis zur Gegenwart zu beleuchten. Das ist spannend, augenöffnend und von Zeit zu Zeit auch ein wenig frustrierend.

Die Neurowissenschaften als Lösung?

Dann lasst uns doch Zuflucht bei unserer neuen heiligen Kuh suchen, bei den Neurowissenschaften (Deutschlandfunk Kultur "Die Zukunft der Hirnforschung"). Mit ihren bildgebenden Verfahren und Messtechniken will die Hirnforschung erklären wie wir lernen, warum wir motiviert sind (oder nicht), wie das „Selbst“ entsteht und eigentlich alles, was das menschliche Verhalten und Handeln betrifft. Aber auch die Neurowissenschaften stehen in der Kritik. Von einem neuen Biologismus und einer unzulässigen Reduktion der Komplexität auf das Gehirn wird gesprochen: „Der neue Homo neurobiologicus hat nicht nur ein Gehirn, er ist sein Gehirn“ (Hasler, 2012). Die Kritik stammt übrigens nicht nur von Psychologen und Soziologen, denen man die Sorge attestieren könnte, dass ihre Kompetenz schwindet, sondern auch aus den eigenen Reihen. Vor allem methodische Mängel und daraus resultierende falsche Befunde seien ein Problem (Der Tagesspiegel "Kritik und Selbstkritik"), wohingegen die Praktiker häufig die fehlende praktische Relevanz kritisieren. Gerade die Neurodidaktik betreffend ist die Kritik groß: Becker, die unter Roth an einem Projekt zu Chancen und Grenzen einer Verbindung von Neuro- und Lernforschung gearbeitet hat, resümiert: "Ernüchternd. Wer als Wissenschaftler Aussagen zur Schule macht, sollte auch schulrelevante Forschung betreiben. Die aber gibt es in der Hirnforschung bislang nicht" (ZEIT Online "Märchenhaftes Versprechen").

Von Lernmythen und Co.

Ein weiterer Punkt, der mir im Kontext der professionellen Personalentwicklung und Erwachsenenbildung immer wieder auffällt, ist die weite Verbreitung von „Lernmythen“. Sei es die Mär der „8-Sekunden-Aufmerksamkeitsspanne-und-damit-weniger-als-ein-Goldfisch“ (BBC News: "Busting the attention span myth"), die Idee, dass der Mensch lediglich 10% seines Gehirns nutzt (Mukerji, 2018) oder die 7-38-55-Regel (Praesentare: "Der Mehrabian-Mythos: Die 7-38-55-Regel"). Selbst die Evidenz für das beliebte 70:20:10-Modell ist kritisch zu betrachten, wenn man sich das Studiendesign anschaut: kleine Stichprobe, keine Zufallsauswahl (Human Resources Manager "Das 70-20-10-Dogma"). Die durch das Modell angedeutete Verteilung ist wahrscheinlich fragwürdig, die Idee dahinter erweitert aber den Blick für Lernen jenseits von formellen Ansätzen, was ich als durchaus hilfreich erachten würde (für Interessierte: Work Learning Research "The 70-20-10 Framework Gets Its First Scientific Investigation" und Debunker Club "The GREAT 70-20-10 Debate — Tweet Stream").

Trotz allem: der wissenschaftliche Prozess stellt für mich natürlich nach wie vor den best denkbaren und erfolgversprechendsten Weg zum Erkenntnisgewinn dar und die Naturwissenschaften verlieren nichts von ihrer Faszination und Poesie. Und selbstverständlich ist und bleibt es für professionelle Bildungsanbieter und -berater äußert wichtig, dass sie ihre Neugier behalten und stets nah an der Forschung bleiben. Aber vielleicht sollten wir dabei mit einer gewissen Demut vorgehen und uns eingestehen, dass wir den Stein der Weisen (zumindest bislang) noch nicht gefunden haben. Und bis dahin halte ich es mit Karl Popper, der sagte: "Meine Auffassung impliziert, dass wissenschaftliche Theorien (es sei denn, dass sie falsifiziert werden) für immer Hypothesen oder Vermutungen bleiben müssen."

Welche Schlüsse wir als Lerndienstleister daraus ziehen

Für unsere Praxis als Lerndienstleister bedeutet es außerdem, dass wir uns neben der wissenschaftlichen Evidenz an unser Konzept der Kundennähe halten und in unsere Entwicklungen, von Beginn der Konzeption bis zur Fertigstellung unserer Produkte, Kunden und Anwender möglichst eng und regelmäßig einbeziehen. So schaffen wir, trotz unsicherer Erkenntnisbasis, Validierung der Relevanz und Passung für unsere Zielgruppe und können weiterhin Formate schaffen, die unseren Teilnehmern mit jeder Menge Spaß die Lerninhalte vermitteln. Und "[…] beim Lernen kann man davon ausgehen, dass positive Gefühle wie Freude, Stolz und Neugier sich immer positiv auswirken" (Mandl & Hense, 2014, S. 26).

Weitere Literaturquellen:

  • Galliker, M. (2016). Ist die Psychologie eine Wissenschaft? - Ihre Krisen und Kontroversen von den Anfängen bis zur Gegenwart. Wiesbaden: Springer
  • Hasler, F. (2012). Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung. Bielefeld: transcript.
  • Mandl, H., & Hense, J. U. (2014). Lernen durch Spiele: Leeres Versprechen oder echtes Potenzial? Wirtschaftspsychologie aktuell - Zeitschrift für Personal und Management 03/2014, S. 24-28.
  • Mukerji, N. (2018). Lernmythen. Skeptiker - Zeitschrift für Wissenschaft und kritisches Denken, 4, S. 168-176.

 

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